Der denkende Reiter: Die Reitkunst gehört zu den prägenden Elementen europäischer Kultur.
Theorie und Praxis, Denken und Handeln sind hier untrennbar miteinander verbunden. Eine
kritische Haltung sich selbst und der eigenen Ausführung gegenüber ist dafür unabdingbar. Das
Reiten als Charakter-Prüfstein und Charakter-Schule findet immer bei den alten Meistern
Erwähnung.
Giovanni Battista Galiberto
2000 Jahre nachdem der griechische Reiteroberst Xenophon „Über die Reitkunst“ mit
Einfühlungsvermögen und Pferdefreundlichkeit geschrieben hatte, trat ein würdiger Nachfolger
auf den Plan: 1650 publizierte der neapolitanische Reiteroberst Giovanni Battista Galiberto in
Wien sein Buch „Il Cavallo da Maneggio“, eine Reitlehre, welche an denkende Reiter appelliert,
ihre Pferde mit Güte und ohne Gewaltmethoden und -werkzeuge auszubilden. Das Werk des
kampfbewährten Haudegens und Abenteurers aus dem 30jährigen Krieg entstand 1635 in bairischer
Festungshaft und war gedacht als Leitfaden für Reiter in Freizeit und Gefecht. In der Wiener
Spanischen Hofreitschule sagt eine Steintafel: „Diese kaiserliche Reitschule wurde zum
Unterricht und zur Übung der adeligen Jugend sowie zur Ausbildung der Pferde für die Reitkunst
und den Krieg errichtet.“ Österreichische Reitkunst verstand sich nie allein als l'art pour
l'art, sondern stets auch als militärisch anwendbare Fähigkeit. Sogar im Allerheiligsten der
Reitkunst, dem Saal der Winterreitschule. So gesehen ist es kein Zufall, dass das erste
Reitschulbuch Österreichs aus der Feder eines Reiterobersts stammt.
Galiberto verlangt, dem Pferd „gute und sanfte Worte“ zu geben. Solche Pferdefreundlichkeit
zieht sich fast durch sein gesamtes Werk. Immer wieder ermahnt er zu sanfter Behandlung des
Pferdes und rät von Gewalt ab. Das schrieb ein Krieger, der wusste, dass im kritischen Moment
sein Leben von einem verlässlichen, ihm zugetanen Pferd abhängen konnte. Wiederholt mahnt
Galiberto, das Pferd selten zu strafen, und wenn doch, dann mit Nachdruck und Ernst. „Und wenn
es seine Schulen gut macht, soll man ihm schön tun, damit es desto mehr Lust und Liebe kriegt,
die Schulen zu lernen, damit es nicht wild und verdrossen, sondern folgsam werde.“
Dem Misshandler alle Strafen
Denn es muss „ein vollkommener Reiter wissen, mit dem Pferd richtig umzugehen und erkennen,
woher der Fehler und die Ursache kommt, wenn es etwas Unartiges oder Übles tut.“ Wer sein Pferd
misshandelt, ist „wert, dass man ihm alle die Strafen gebe, die er dem Pferd gibt. Denn er
lässt sich vom Zorn meistern und verbittern und weiß weder sich selbst, noch das Pferd zu
regieren.“
Die Kandare möge die mildeste und einfachste sein, welche es gibt. Damit soll das Pferd
möglichst ein Leben lang geritten werden. Galiberto warnt vor dem Irrglauben, ein Gebiss könne
natürliche Mängel und Schwächen des Pferdes beheben. Entdeckt ein „guter und vernünftiger
Reiter“, dass er trotz Strenge und Bemühung gesteckte Ziele nicht erreicht, so soll er weise
einlenken und nichts verlangen, was das Pferd nicht geben kann, denn durch Überforderung kann
es gefährliche Untugenden annnehmen.
Schulterherein schon 1635
Galiberto formuliert neben anderen Seitengängen auch das Schulterherein. Er nennt es „Canton
oder Winckel“, eine Schule, die er für sehr nützlich hält, um das Pferd zu kräftigen und
leichter zuzureiten: „Die Ursache aber, warum ein Pferd solchermaßen bald geschult und
zugeritten wird, ist, dass, wenn man es gehörig im 'Winckel' reitet, es sich lockert und
gehorsam versammelt, Stärke fasst, den Hals wölbt und herbei krümmt, den Kopf ruhig trägt, das
Kreuz richtig stellt, die Wendung ansieht, ein gutes Maul kriegt , die Schenkel und Füße
kreuzt.“ Um das Pferd dazu zu bringen, bedient sich Galiberto eines Mauerwinkels. Die Schule
kann, so Galiberto, in allen Grundgangarten geritten werden.
In Neapel und Wien wurde Schulterherein rund hundert Jahre vor Guérinière geritten, der nach
allgemeiner Meinung als Erfinder dieser Schule gilt. Das aber stimmt nicht. Guérinière ist nur
der Erfinder des Begriffs „épaule en dedans“, d. h. „Schulter herein“, nicht der Schule selbst.
Ob die Wahrheit sich in den Köpfen der Menschen durchsetzen wird, muss sich erst weisen.
Galiberto überragt mit seiner Auffassung humaner Pferdebehandlung den Durchschnitt seiner
Epoche und übte, da es sein Buch immerhin auf vier Auflagen brachte, einigen Einfluss auf die
Reitkunst einer mächtigen Nation aus. Außergewöhnlich auch, dass Galiberto bereits etwa 1635
das beschrieb, was Guérinière erst 100 Jahre später „Schulter herein“ nennen sollte.
Johann Christoph v. Regenthal
Wesentlich zum Ruhm österreichischer Reitkultur trug eine Persönlichkeit bei: Johann Christoph
von Regenthal. Seine internationale Berühmtheit erlangte er durch seine Schüler: Kaiser Karl VI.
trainierte zwei- bis dreimal pro Woche bei ihm und ritt daher bei allen Funktionen tadellos
majestätisch. Kaiser Franz I. Stephan des Heiligen Römischen Reichs war sein hervorragendster
Reitschüler. Außerdem wirkte er als Lehrer prominenter Reitmeister wie Friedrich Wilhelm Baron
Reis von Eisenberg sowie des Freiherrn von Sind, die seinen Ruhm in England, Italien,
Deutschland, Frankreich verbreiteten.
Regenthal diktierte vor seinem Tod 1730 sein „Compendium“, das in Vergessenheit geriet und erst
1996 als „Urdirektiven“ publiziert wurde. Regenthals „Compendium“ über Menschen- und
Pferdeausbildung sowie Pferdezucht ist eine teils fragmentarische Darstellung in genialer Kürze
ohne Umständlichkeiten. Regenthal, der Empirist: Nur die Erfahrung zählt. Spekulation
verachtet er. Und damit gehört er trotz des barocken Gestus zum Zeitalter der Aufklärung. Wie
uns zeitgenössische Quellen vermitteln, war Regenthal eine überragende Größe, ein Monument zu
Lebzeiten, eine Institution. Wie vor ihm Galiberto, fühlte er sich nicht als Theoretiker,
sondern als Praktiker des Pferdewesens. Wenn der Begriff Klassik als Epoche kultureller
Höchstleistung definiert wird, so verdient die öster¬reichische Reitkunst in Regenthals
Zeitalter dieses Prädikat absolut. Regenthals Ära ist der Höhepunkt der österreichischen
Reitkunst in einem soziokulturellen Umfeld höchster imperialer Macht- und Prachtentfaltung.
Viele der Pferde, welche Johann Georg von Hamilton in seinen überragenden Gemälden darstellte,
wurden von Regenthal ausgebildet. Hier trafen sich in ihrem Wirken zwei Künstler auf höchstem
Niveau.
In perfekter Einheit & völliger Freiheit
Warum Regenthals Reitart so beeindruckte, beschreibt Sind: Er reite, „ohne dass man die
geringste Bewegung seitens des Reiters bemerkt. Das Pferd muss unter ihm in perfekter Einheit
und völliger Freiheit arbeiten, als ob es seine Schulen von selbst machen würde. Das ist das
Meisterstück der Kunst. Ich habe es in dieser Art ausgeführt gesehen durch den Baron von
Regenthal.“ Regenthal selbst berichtet: „Es finden sich unter meinen dressierten Pferden viele,
die sich fast nach des Reiters Gedanken führen und regieren lassen. Man sieht keine Zaumzügel
angezogen oder ange¬spannt, sondern völlig flattern, als wären sie von nichts gehalten, und
dennoch stehen die Pferde in ihrer schönsten Haltung mit dem Kopf perfekt senkrecht. Wenn nun
der Körper oder die Hand sich nur im geringsten gegen diese oder jene Seite wendet, wird diese
Wendung sofort ausgeführt. Ich habe noch Pferde, die sich mit dem Körper führen und regieren
lassen. Ich nehme die Kandarenzügel richtig abgelängt in die linke Hand, halte diese fest an
meinen Körper und lasse sie auch keines Messers Rücken breit von ihrem Platz abweichen. In
solcher Haltung galoppiere ich mein Pferd in die Weite, in die Enge, redoppiere es weit und eng,
bringe es in kleinste Zirkel einer Pferdelänge. Ich laufe eine völlig gestreckte Karriere und
pariere auf der Stelle, dieses alles mit dem Körper allein, ohne dass die Hand einen Strohhalm
breit von ihrem Zentrum abgewichen wäre. All dies besteht in keiner Spekulation, sondern in der
wahren, richtigen Ausführung, wie ich sie oft vor meinem Publikum präsentierte.“
Eckpunkte von Regenthals Arbeit:
- Er praktizierte bereits selbstverständlich die Schule Schulter herein, die er NICHT von
Guérinière übernahm.
- Er bezeichnet sich als Erfinder der Unterlegtrense.
- Er war vehementer Gegner von Gewalt gegen Pferde, lehnte scharfe Gebisse und Schlaufzügel
völlig ab.
- Er vertrat elegantes Reiten des im Sattel völlig still sitzenden Kavaliers, der scheinbar
mühelos und ohne Einwirkung mit seinem Pferd kentaurenhaft agiert.
- Er sah in solchem Reiten mit ungespannten, flatternden Zügeln bei bester Versammlung den
Inbegriff von Können. Guérinière nannte das „descente de main“. Wie Regenthal durch seine
Schüler auf die französische Reiterei wirkte, wäre noch zu erforschen.
- Er betrachtete sich als Herold einer neuen aufgeklärten Epoche der Reitkunst und des humanen
Umgangs mit Pferden.
- Er forderte den denkenden Reiter, der mit gesundem Menschenverstand falsche Traditionen sowie
Irrtümer erkennt und entsprechend handelt.
Adam von Weyrother
war Regenthals Nachfolger als kaiserlicher Oberbereiter und ritt 1735 zur Eröffnung des Wiener
Hofreitschulsaals vor illustrem Publikum. Sein Werk „Le Parfait Écuyer“ erschien in Brüssel.
Einige inspirierende Zitate daraus: „Bevor man es unternimmt, ein Pferd zu dres¬sieren, muss man
bedenken, dass man es mit einem intelligenten Tier zu tun hat, empfänglich für jeden Reiz. Man
muss seinen Charakter studieren.“ „Wenn das Tier gehorcht, muss man es immer liebkosen; aber es
ist nicht das gleiche mit der Strafe, die man nur mit Diskretion und bei Anlass verwenden soll;
wenn das Pferd Fehler machte, ist das fast immer der Fehler des Reiters und selten der seine;
ein selbstgefälliger Mensch wird diesbezüglich immer ein schlechter Richter sein und das Pferd
strafen, wenn er selbst die Rüge verdient hätte.“
Reitmeister als Menschenformer
Ein Reitmeister braucht ausgeprägte Charaktereigenschaften: „Ein Reitmeister muss fest sein,
wenn auch sanft, intelligent ohne Selbsteingenommenheit, kühn ohne Leichtsinn, lebhaft ohne
Hektik; doch Kaltblütigkeit und Geduld sind seine hervorragendsten Qualitäten. Der Begriff
Reitmeister, im ganzen Umfang seiner Bedeutung, bezeichnet einen Mann, der fähig ist, Pferde
auszubilden und Menschen zu formen; man formt Menschen, indem man sie in ihrem Können schult,
sich fest zu Pferd zu halten und ohne Verkrampfung, wobei man ihre Fehler korrigiert; indem man
ihre natürliche Anmut entwickelt und sie lehrt, sich selbst zu kennen und ihr Pferd zu kennen.“
Solche Philosophie beweist die Höhe einer Reitkultur, die sich als Bildungsinstrument für die
gesamte Persönlichkeit begriff, als charakterbildend mit psychologischer Finesse. Das Pferd
wird durch den Vermittler Reitmeister zur formenden Kraft für das menschliche Ich, zum
Schlüssel der Selbsterkenntnis.
Denkend reiten
Drei Beispiele aus 500 Jahren Tradition des denkenden Reiters. Wenn wir für unser Alltagsreiten
mit Verstand die alten Meister lesen, können unsere Pferde davon profitieren und wir mit noch
mehr Glanz reiten. „Meilensteine österreichischer Reitkunst“ bietet konzentriert Reiterwissen,
das sich durch Jahrhunderte bewährte. Genüssliche Lektüre zuerst. Dann Überlegung, was für
unsere Situation taugt. Dann nach Möglichkeit ausführen. Wenn wir zu Pferd sitzen, immer wieder
einfließen lassen, was der und der Meister sagte. Das gibt unserem Reiten geistigen Hintergrund.
Unser Hirn, unser Herz, unser Körper, unser Pferd leben auf. - Werner Poscharnigg: „Meilensteine
österreichischer Reitkunst“.
_______________ EDITION WERNER POSCHARNIGG ________________
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